Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3 Juli 2010, Nr. 151

Großmama war eine Schildkröte

Mit Kinderporträts stellt die holländische Fotografin Cuny Janssen Fragen an die Zukunft. Ihr neuer, schönster Band ist in Oklahoma entstanden.

 


Von Freddy Langer

Einen Moment lang muss man glauben, das kleine, chamoisgetönte Knipsbildchen im Nachwort des Bildbands zeige die Fotografin selbst: ein Kind, kostümiert als Indianer, irgendwo in einer breiten, fast unwirklich leeren Wohnstraße. Ein einziges Auto steht in der Ferne geparkt, ein VW-Käfer mit geteilter Heckscheibe – so alt ist das Foto. Cuny Janssen aber kam erst 1975 zur Welt. Sollte sie sich als Kind je mit Federschmuck verkleidet haben, hätten ihre Eltern das wohl in einem Farbfoto festgehalten. Die kecke Pose, der freche Blick und die konventionelle Komposition allerdings könnten sich genauso auch in einem Familienalbum der achtziger Jahre wiederfinden. Fast möchte man diese Art Foto als universell bezeichnen. Dass es auch anders geht, beweist Cuny Janssen.

Die Holländerin Cuny Janssen ist Kinderfotografin. Vielleicht die beachtenswerteste unserer Zeit. Ihr jüngstes Buch, “My Grandma was a Turtle” ist ihr nunmehr fünfter Band, für den sie an einem entlegenen Flecken der Welt Kinder porträtiert hat. Kecke Posen und freche Blicke gibt es in keinem ihrer Bücher. Und in diesem findet man auch kein weiteres Indianerkostüm, obwohl die Bilder während eines Aufenthalts in Oklahoma allesamt in Familien solcher Stämme wie der Cherokee und der Creek, der Mohawk, Osage und Delaware entstanden sind.

Die Kinder, denen Cuny Janssen sich widmet, sind Kinder mit Geschichten – unschönen Geschichten bisweilen, wie in dem Buch “Macedonia” von 2003, bei dem man vermuten darf, dass es die Erfahrung des Kriegs ist, die sich so tief in die Züge der jungen Gesichter gebrannt hat. Oder vier Jahre später in dem Band “There is Something in the Air” über eine Siedlung in der Wüste Südafrikas, der über den Umweg der Kinderporträts von politischen Verhältnissen und wirtschaftlichen Nöten erzählt. Dabei bedient sich Cuny Janssen weder der Mittel einer sentimentalen noch einer anklägerischen Reportagefotografie. Ihre Bilder sind vielmehr von berückender Schlichtheit. Viele wirken wie beiläufig entstanden. Die Raffinesse des Lichts, die penible Anordnung der Bildelemente ode die symbolbehafteten Details erschließen sich erst allmählich.

Was davon ablenkt, sind die Augen der Kinder. Stets konzentriert sich Cuny Janssen auf den Moment, in dem alles Kindliche aus den Minen verschwunden ist und die Blicke ernst werden – nicht starr, sondern fest. Manchmal strahlen sie dabei eine Selbstsicherheit aus, für die es zu früh ist in ihrem Leben, eine beängstigende Selbstsicherheit.

Den Konterfeis fügt Cuny Janssen stets Aufnahmen der Umgebung hinzu, von Bergen, Wäldern und Seen oder von Felsen, Kakteen und Sand. Sie ist auch Landschaftsfotografin. Wiederum versagt sie sich jede Emotion. Mit der Bedeutungsskala der Kunstgeschichte, von “sublim” bis “pittoresk” kommt man hier nicht weit. Ihre Dokumentationen der Topographie sind von jener Nüchternheit, die das Gezeigte bisweilen schon wieder verrätselt. Zumal der Betrachter weiß, dass es sich um Orte kriegerischer Auseinandersetzungen handelt oder um Orte einer rigorosen Ausbeutung der Natur.

Wie Cuny Janssen Landschaften und Porträts stets neu und eigenwillig kombiniert, auf Doppelseiten, mit Ausklapptafeln oder nach Leporello-Prinzip, macht jedes ihrer Bücher zu einem Künstlerbuch. In keines aber hat sie mehr Arbeit investiert als in den jüngsten Band, ihrer bisher schönste Arbeit – und ihre versöhnlichste.

“My Grandma Was A Turtle” ist ein wundervolles Buch, ein Fotoalbum, in das sie selbst, sorgfältig arrangiert, etwa siebzig Blätter unterschiedlicher Größe in Handarbeit eingeklebt hat. Unterbrochen jeweils von Doppelseiten der Prärie und einer Büffelherde, fügt sie Kinderporträts, Details einer wilden Natur und die unvermeidlichen Spuren de Zivilisation zu einer stillen, fast lyrischen Bilderzählung zusammen. Jedes Kapitel spiegelt sich in den beiden anderen wider. Wie Folien scheinen hier Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft übereinander zu liegen. Denn natürlich stellen sich in Landschaftsfotografien und Kinderporträts keine Fragen deutlicher als die nach dem Woher und dem Wohin. Immer geht es darum in Cuny Janssens Büchern um Standortbestimmung.

Diesmal mag sie von manchen Antworten selbst überrascht worden sein. Natürlich soll uns das Kinderfoto mit dem Faschingskostüm am Ende des Bandes an all die Klischees erinnern, die im Laufe von ein-, zweihundert Jahren über die Indianerstämme Nordamerikas gestülpt worden sind. Und es zeichnet dieses Buch aus, dass wir daran erinnert werden müssen.

Denn Cuny Janssen folgt so wenig dem naiven Bild des edlen Wilden, wie sie kaputte Autos, Häuser oder Menschen zeigt. Stattdessen berichtet sie aus seiner unaufgeregten Welt, in der Tradition und Zukunft keine Widersprüche zu sein scheinen und in der die Kinder mit gesunder Skepsis in die Kamera blicken. Nur dass die wenigsten von ihnen aussehen wie Indianer, sondern rothaarig sind oder strohblond mit schneewittchenheller Haut, hinterlässt beim Betrachter ein Gefühl der Verunsicherung. Aber eben das ist die Geschichte dieser Kinder.


Cuny Janssen: “My Grandma Was A Turtle” Mit texten von Nicky Kay Michael und Sybren Kuiper. Snoeck Verlag, Köln 2010. 92 S., Abb., geb., 39,80 €